Glosse
Danke, stimmt so
Wir leben in aufgeregten Zeiten, in denen oft schon Kleinigkeiten ausreichen, um ganze Bevölkerungsgruppen den gesunden Menschenverstand verlieren zu lassen. Experten geben in der Regel dem Internet die Schuld und vergessen dabei, dass die Menschheit, besonders die deutsche, es seit Hunderten von Jahren versteht, gesellschaftliche Aufregerthemen aus dem Nichts zu kreieren. Beispiel gefällig?
Der Göttinger Rechtsgelehrte Rudolf von Jhering ärgerte sich seinerzeit so sehr über den gesellschaftlichen Zwang zur Trinkgeldgabe, dass er im Jahr 1882 mit einer Streitschrift wider die „Trinkgeldunsitte“ eine sozialpolitische Debatte anschob, die die deutsche Nation für die nächsten vier Jahrzehnte in Atem halten sollte. Man kennt diese Typen, die sich von der freundlichen, alleinerziehenden und bereits um die Mittagszeit völlig abgehetzten Bedienung im Biergarten die zehn Cent ihrer Rechnung über 39 Euro 90 herausgeben lassen, und hat sich schon (mehr als) einmal für sie fremdgeschämt. Dass Trinkgeld in seinem Ursprung ein Zeichen des Respekts, der Anerkennung und, jawohl, Liebe ist, zeigt ein Ausflug in die noch etwas länger vergangene Vergangenheit.
Die Gabe von „Trinckgelt“, „Trankgeld“ oder „Trunkgeld“ sollte bereits im späten Mittelalter sicherstellen, dass der meist schlecht- und oft auch gar nicht bezahlte Kellner, Bader oder Kutscher für seine Leistung angemessen entlohnt wurde. Anno dunnemal wurde Servicekräften meist überhaupt kein festes Einkommen zugestanden. Kellner waren ausschließlich auf Trinkgeld angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, hatten weder Feier- noch Urlaubs-, dafür jedoch 14-Stunden-Tage. Doch wenn man Menschen ein Bier oder eine Pommes-rot-weiß an den Tisch bringt und dabei freundlich lächelt, findet man leicht Zugang zu ihren Herzen – ein ordentlicher Schlag ins Gesicht des knauserigen Herrn von Jhering. Mit der Verbesserung der sozialen Lage von Menschen im Dienstgewerbe zu Beginn der Zwanzigerjahre scheiterte sein Anliegen schließlich endgültig.
Erfreulicherweise hatte es immer schon andere, großherzigere Stimmen gegeben. In seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“ hatte Adolph Freiherr Knigge schon 1788 bestimmt, dass es angeraten sei, „dem Wagenmeister ein gutes Trinkgeld zu geben“. Und im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm findet sich der Eintrag, dass ein Trinkgeld als kleinere Geldsumme für außer der Regel geleistete Dienstverrichtungen (der eigens herbeigeschaffte Wassernapf für deinen Hund, der bis auf die entlegenste Außenterrasse geschleifte Hochstuhl für dein Kind, die vierte, fünfte und auch sechste zusätzliche Serviette, um die Fassbrause von deiner Pizza zu tupfen) sehr wohl angezeigt sei.
Heutzutage geht man bei der angemessenen Höhe eines Trinkgelds von fünf bis zehn Prozent des Rechnungsbetrags aus. Und obwohl es sich bei Trinkgeld dem Grunde nach um einen Arbeitslohn handelt, wird er nach § 3 Nummer 51 Einkommensteuergesetz vollumfänglich steuerfrei gestellt. Doch aufgepasst! Auch wenn der Gesetzgeber im Jahr 2002 die Freibetragsgrenze abgeschafft hat, hat er damit keinesfalls beabsichtigt, dem Begriff „Trinkgeld“ keinerlei betragsmäßige Begrenzung mehr zuzuschreiben. Nichts da von wegen „nach oben offen“.
Das hat auch ein an einer GmbH beteiligtes Unternehmen erfahren müssen, das zwei von der GmbH beschäftigten Prokuristen einen üppigen Bonus hatte zukommen lassen, den die beiden als „Trinkgeld“ deklarierten. Das Finanzgericht Köln jedoch erklärte, dass Trinkgeld in der Regel Kellnern, selbstständigen Boten, Friseuren, Fußpflegern, Gepäckträgern, Taxifahrern, Zimmermädchen oder dem freundlichen Rentner, der in den Urlaubswochen das Meerschweinchen unserer jüngsten Tochter füttert, gezahlt wird. Außerdem handele es sich bei Trinkgeld in der Regel um bescheidene Summen und nicht – wie in diesen beiden Fällen – um 50.000 Euro beziehungsweise 1,3 Millionen Euro. Freiherr Knigge, notorisch knapp bei Kasse, hätte hier vielleicht noch ein Auge zugedrückt. Aber den armen von Jhering hätte spätestens jetzt der Schlagfluss getroffen. Die Kölner Richter wiesen auf das allgemeine, unter anderem von den beiden Herren geprägte Begriffsverständnis von „Trinkgeld“ hin und entschieden, diesen nicht ganz so kleinen „Tip“ als steuerpflichtigen Arbeitslohn zu behandeln. Nicht ganz so glimpflich wäre die GmbH übrigens in Japan davongekommen. Im Land der Maki-Rollen wird die Gabe von Trinkgeld als Unsitte betrachtet, da guter, nein, bester Service als Selbstverständlichkeit gilt. Ein auf dem Tisch für den Kellner hinterlegtes Trinkgeld wird dem Gast in der Regel begleitet von aufgeregtem Geschrei als „vergessenes Geld“ bis zur Bushaltestelle hinterhergetragen, eine für beide Seiten hochnotpeinliche Angelegenheit. Sollten Sie dennoch darauf bestehen, für das Zimmermädchen ein „Kokorozuke“ (etwas von Herzen Kommendes) in ihrem Hotelzimmer zu hinterlassen, kaufen Sie bitte die dafür vorgesehenen kleinen Umschläge in einem 100-Yen-Laden in Ihrer Nähe. Danke, stimmt so.