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Ich habe das Gefühl, … – Mandantenzeitschrift tatort:steuern

Ratgeber

Ich habe das Gefühl, …

Oft hören wir in Einzelgesprächen oder auch in Gruppendiskussionen Sätze, die mit den Worten „Ich habe das Gefühl …“ beginnen. Dann sollten wir uns fragen: Welches „ich“ meldet sich gerade? Und ist es tatsächlich ein „Gefühl“? In jedem Fall ist Achtsamkeit angebracht, wenn wir von unserem Gegenüber diese Vokabeln vernehmen, oder sie uns selbst auf den Lippen liegen.

Es ist erstaunlich, wie oft von einem „Gefühl“ gesprochen wir, obwohl eben kein Gefühl benannt wird. Daher lohnt sich die Rückfrage: „Was genau meinst Du damit?“ Oft geht es tatsächlich nicht um ein Gefühl, sondern um

Wer in der Literatur zum Thema Gefühle forscht, wird feststellen, dass es keinen Konsens über Grundgefühle gibt. So mischen sich Begriffe wie Gefühl, Intuition, Emotion, Empfindung und Wahrnehmung, ohne dass es eine klare oder gar allgemein anerkannte Position gibt. Das ist umso erstaunlicher, als jeder Mensch täglich mit Gefühlen zu tun hat.

Dabei ist es wichtig zu verstehen: Für meine Gefühle bin nur ich verantwortlich, NIE ein anderer Mensch! Besser als „Du machst mich wütend!“ wäre es zu sagen: „Ich bin wütend!“ Ein anderer Mensch in gleicher Situation wie ich, könnte sehr wohl auch ganz anders fühlen. Für meine Gefühle bin also nur ich allein verantwortlich.

Unsere Gefühle bringen uns zuerst in Kontakt mit uns selbst und laden uns ein, in die Wahrnehmung zu kommen. Erst im zweiten Schritt kann ich schauen, was bei meinem Gegenüber vielleicht dieses Gefühl bei mir initiiert hat. Erst damit bin ich im Kontakt mit meinem Gegenüber! Doch diese Reihenfolge ist sehr bedeutsam.

In der Arbeit als Coach nutze ich das Modell der vier Grundgefühle, das aus dem tiefenpsychologischen Konzept der Transaktionsanalyse stammt. Diese Grundgefühle sind:

Auch Scham und Ekel können dazu genommen werden, aber für den Moment sollen die vier Grundgefühle im Fokus stehen.

Freude

Freude ist ein Gefühl, dass im Hier und Jetzt erlebt werden will, uns aber dennoch mit Vergangenheit und Zukunft in Verbindung bringen kann.

Doch: Freude ist flüchtig und will im Moment erlebt werden. Freude ist scheinbar das „schönste“ und „beste“ Gefühl. Aber Achtung! Es ist wie beim Kochen; nur ein Gewürz zu verwenden, lässt ein ansonsten gutes Gericht schnell fade schmecken.

„Immer nur lächeln …“ hat einer meiner Coachees als Kind gelernt. Nun ist er als Manager bei mir, der im Assessment-Center für die nächste Hierarchieebene durchgefallen ist. Man spüre ihn nicht richtig, wurde gesagt. Man habe das Gefühl, er hätte ein Messer hinter dem Rücken. Diese Rückmeldungen bekam er unter anderem und am Ende fiel er deswegen durch.

Was ist hier schiefgelaufen? Hier ist etwas passiert, das typisch ist, wenn wir nicht kongruent mit unseren Gefühlen umgehen. Reduzieren wir uns auf EIN Gefühl, wird unser Gegenüber misstrauisch. ALLE Gefühle gehören zum Leben dazu und auch zu unseren Beziehungen. Zeigt nun ein Mensch, wie der genannte Coachee, nur ein Gefühl, wittern unsere Mitmenschen Manipulation. In der entstehenden Verunsicherung handeln wir naheliegend menschlich: Wir gehen bei unserem lächelnden Gegenüber von einem Worst-Case-Szenario aus, wir unterstellen ihm das Übelste, was passieren kann, wie zum Beispiel ein Messer hinter dem Rücken zu haben. Was für ein Preis.

Trauer

Trauer ist ein Gefühl, das mir zeigt, dass in der Vergangenheit etwas Bedeutsames war, das gesehen und losgelassen werden will.

Viele Coachees haben den Zugang zur Trauer gut verschüttet, weil sie befürchten, vor lauter Trauer in Tränen zu ertrinken, wenn sie diese erst einmal zulassen würden. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall! Je klarer sich ein Mensch seiner Trauer stellt, desto schneller wird diese auch wieder weniger werden und irgendwann ganz verebben. Gerade beim Tod geliebter Menschen werden wir diese Erfahrung machen können. Wie intensiv, wie unendlich tief ist die Trauer in den Tagen nach dem Tod! Wie sehr fühlt es sich an, als würde diese Trauer nie vergehen. Und doch: Je mehr ich es zulasse, desto klarer wird die Trauer über Wochen und Monate weniger und am Ende bleibt ein tiefes Spüren des Verlusts, aber die Trauer ist abgearbeitet.

Die Erfahrung von Trauer ist ein Beziehungsgeschehen. Das Maß der Trauer, die wir erleben, hat mit der Tiefe der Beziehung und mit der Bedeutsamkeit des Kontakts zu tun.

Wer sich diesem Prozess – warum auch immer – nicht stellen mag oder kann, wird ein anderes Phänomen der Trauer erleben: die Tränen, die zum Trauerprozess gehören, sind wie ein Stausee. Hat dieser keinen Abfluss, stauen sich die Tränen bis zum Tag, an dem jemand es vermag, den Zugang zu öffnen. Dann fließen in der Beratung häufig nach Jahren die Tränen, die zuvor nicht herauskonnten oder durften. Wird die Trauer verdrängt, kann diese hartnäckig über Jahrzehnte in uns schlummern. Kommt es dann zu einem vertrauensvollen Kontakt damit, wird oft deutlich, wie viel Kraft und Energie über Jahre eingekapselt war. Mögen die Tränen zu Beginn noch so heftig kommen, wird es in Wochen oder Monaten immer sanfter und weniger. Bis der Stausee abgeflossen ist.

Angst

Angst ist ein Gefühl, das mir zeigen will, dass in der Zukunft etwas Bedeutsames auf mich wartet, das gesehen werden will.

Ein Coachee entscheidet sich, beruflich komplett als Selbstständiger tätig zu werden. Dazu gehörte auch das Beenden der Arbeit als Festangestellter. Mehrere Male in dieser Übergangszeit wachte er des Nachts mit pochendem Herzen auf und hatte Existenzangst. Das war angemessen, denn er war der Hauptverdiener in der Familie und hatte damit finanziell die Hauptlast zu tragen. Diese Existenzangst war somit gut begründet. Als Coach ermutigte ich ihn, bei der nächsten Begegnung mit der nächtlichen Angst zu sagen, dass er die positive Absicht der Angst – hier achtsam zu sein und seine Verantwortung zu sehen –verstanden hat. Dreimal wiederholte sich dieses Erleben, dann konnte er wieder durchschlafen. Die Angst schien bemerkt zu haben, dass er seine Achtsamkeit auf seine Verantwortung gerichtet hatte und konnte von dannen ziehen.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass Angst wie eine Lupe wirkt. Die Angst vergrößert die Dinge, damit ich sie in den Blick bekomme. Ich erkläre das mithilfe dieser Geschichte:

Es ist Sommer. Die Kinder kommen aufgeregt zu mir, die Oma habe eine Zecke am Ohr. Tatsächlich. Mit der Zeckenzange ist diese schnell entfernt. Ich hole eine Lupe, damit die Kinder die kleine Zecke besser sehen und in Zukunft eindeutig identifizieren können. Auf einem weißen Blatt liegt die Zecke auf dem Tisch und beim Blick durch das Vergrößerungsglas erschrecken die Kinder. „Die ist ja riesig!“ „Nein, sie ist sehr klein“, erwidere ich. Doch die Kinder bleiben dabei, die Zecke sei riesig. „Ihr Lieben, ihr schaut durch ein Vergrößerungsglas. Schaut Euch die Zecke noch einmal ohne Lupe an.“ Erst da wird den Kindern deutlich, dass die Zecke nur riesig wirkt, wenn sie ein Vergrößerungsglas nutzen.

So ergeht es uns mit der Angst. Sie zeigt uns, wie durch ein Vergrößerungsglas wichtige Dinge, die gesehen werden sollen. Sobald ich meiner Angst dankbar sagen kann, dass ich den Wink verstanden habe und weiß, dass da etwas ist, dass wahrgenommen werden will, wird die Angst in der Regel von allein kleiner werden.

Wut

Wut ist ein Gefühl, dass mich in Veränderung bringen will.

Bei der Wut nutze ich gerne die Metapher, dass Wut so etwas wie der Anlasser einer Autobatterie ist. Sie ist gespeicherte Energie, die mich in Bewegung bringen kann. Und dann hat die Wut ihre Aufgabe erfüllt. Wer sich durch seine Wut in Bewegung bringen lässt, wird gleich merken, wie diese danach auch wieder zur Seite tritt.

Viele Klienten haben mit der Erfahrung von Wut Probleme, weil dies in ihrer Erziehung häufig zu negativen Feedbacks geführt hat. Dann ist es mitunter notwendig, als erwachsene Person einen neuen Zugang zur Wut zu finden, die sich als Ressource erweist. Für viele Coachees war der Satz: „Wut ist ein kostenloser Energiedrink“ hilfreich, um ihre Wut besser als Ressource annehmen zu können.

Entscheidend ist, dass Wut MICH in Bewegung bringen will und nicht bedeuten kann und darf, dass ich wütend auf jemand bin. Wut ist MEIN Gefühl, es ist in meiner Verantwortung. Andere können dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Andere mögen der Auslöser meiner Wut sein, aber nicht die Ursache.

Genauso wichtig ist der klare Blick darauf, was die Person meint, wenn sie „ich“ sagt. Unser „Ich“ ist nie eine Entität, spiegelt also nie eine Einheit oder eine Ganzheit wider, sondern lässt sich in einer Vielzahl von gerade vorne stehenden Persönlichkeitsanteilen und Fokussierungen beschreiben.

Der Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth hat 2001 einen großartigen Vortrag auf den Lindauer Psychotherapiewochen gehalten, der an dieser Stelle sehr hilfreich ist. Unter dem Vortragstitel: „Wo im Gehirn existiert das Ich und wann und wie entsteht es?“ weist er darauf hin, dass der Begriff „Ich“ ähnlich wie der Begriff „Geist“ oder „Bewusstsein“ einen der komplexesten Begriffe der Geistesgeschichte darstellt. Er führt aus, dass das „Ich“ modular aus funktional unterschiedlichen Untereinheiten aufgebaut ist. Dabei unterscheidet er zehn Untereinheiten des „Ich“, die beschrieben werden können. Damit wird deutlich, wie vielfältig der Satz „Ich habe das Gefühl …“ interpretiert und gedeutet werden kann.

Als Coach ist es immer wieder meine Aufgabe, sehr genau hinzuhören, wenn meine Klienten scheinbar einfache Sätze sprechen, da diese sehr viele Aspekte beinhalten können. Wir sind immer wieder herausgefordert, durch präzise Rückfragen sicherzustellen, dass es eine größtmögliche Klarheit darüber gibt, wer hier gerade über was redet.

Es lohnt sich daher, auf der einen Seite so präzise wie möglich herauszufinden, ob jemand wirklich in seinen Gefühlen unterwegs ist und diese benennen kann. Auf der anderen Seite ist es hilfreich, die Begriffe Gefühl, Intuition, Emotion, Empfindung sowie Wahrnehmung zu differenzieren und durch Rückfragen zu klären, worum es genau geht.

Volker Tepp arbeitet seit dem Jahr 2000 als Coach, Supervisor und Berater. Er ist examinierter Theologe und Diplom-Pädagoge und Mitglied in verschiedenen Beratungs-, Coaching- und Supervisionsfachverbänden und war von 2009 bis 2022 Vorstandsmitglied der EASC – European Association for Supervision and Coaching.

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