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Die Abwesenheit von falschen Entscheidungen – Mandantenzeitschrift tatort:steuern

Glosse

An der Grenze zu den Niederlanden ist Deutschland vor allem grün und flach und seit kurzem auch ein bisschen korrupt. Da, wo Dörfer Dingden, Dämmerwald und Hamminkeln heißen, hat ein Finanzbeamter, verheiratet, Mitte Dreißig, Vater zweier Töchter, dem eigenen Amt tief in die Tasche gegriffen. Er erfindet Steuerfälle, fälscht Bescheide, überweist Steuerrückzahlungen auf das eigene Konto, kreiert Eigenheimzulagen für Häuser, die es gar nicht gibt, knackt die Passwörter seiner Kollegen und treibt seine Untaten fortan unter ihrem Namen. Über eine halbe Million Euro später entdeckt ein Kollege Ungereimtheiten und erstattet Anzeige, der Finanzbeamte droht mit Selbstmord, bringt es dann aber doch nicht über sich, sein Leben vorzeitig zu beenden und endet vor dem Richter, der auf Untreue erkennt und vierjährigen Freiheitsentzug beschließt. Man könnte jetzt der Versuchung nachgeben, hämisch zu lachen, hö hö hö, ein heimlicher Groll gegen die Schröpfer vom Finanzamt sitzt uns allen unterm Gummibund, hä hä hä, geschieht ihnen recht. Oder man gönnt sich den Luxus der Einfühlung und stellt sich die Frage, was den armen Mann nur getrieben hat. Karriere zerstört, Ruf ruiniert, was von der Ehe übrig bleibt nach vier Jahren Haft und finanziellem Ruin ist schwer vorauszusagen (aber der gesunde Menschenverstand senkt hier kopfschüttelnd den Daumen, er sieht den Verurteilten nach seiner Entlassung als frischgeschiedenen Single). Was bleibt, ist Mitgefühl. Warum sagt ein Mann wie er nicht NEIN? Der Bruder braucht zehntausend Euro für seine Hochzeit? Nein, eine Hochzeit braucht die liebsten Freunde, kein wandelndes Buffet, man kann auch sehr schön im eigenen Garten heiraten. Die Schwiegereltern verlangt es nach einem Ferienhaus auf Rügen? Nee, lass mal, es hat da sehr schöne Campingplätze, für Tagesgäste bis 19 Uhr schon ab drei Euro. Jetzt will auch die Frau eine Ferienwohnung? Und ein Eigenheim? Selbstverständlich gerne, solange sie ihre Hälfte vom Kaufpreis eigenhändig ranschafft und beim Gespräch mit dem Bankberater einen seriösen Eindruck macht. So hätte er es machen können, und so hat er es nicht gemacht. Warum? Der arme Kerl hat Geld mit Liebe verwechselt! Von Liebe kriegen wir alle nie genug, aber wenn wir glauben, dass wir geliebt werden, wenn wir den Menschen um uns herum SCHÖNE DINGE kaufen, haben wir schon verloren. Wenn wir glauben, dass wir zu den Leuten, von denen wir geliebt werden wollen, immer JA sagen müssen, ist uns nicht mehr zu helfen. Und wenn wir fürchten, dass wir weniger liebenswert sind, nur weil wir in einer Zwei-Zimmerwohnung ohne Balkon wohnen und unsere Version einer Luxusimmobilie auf Rügen eine Pachtparzelle in der Schrebergartenkolonie „Zweite Heimat“ ist, dann ruft diese kleine, mutige Kolumne dazu auf, den Hermann Hesse in sich zu entdecken, an einem Wiesenschaumkraut zu schnuppern und beim nächsten Anfall von Gier einmal tiiiief durchzuatmen. In uns allen wohnt ein korruptionsaffiner Finanzbeamter. Wir leben in einer Gesellschaftsordnung, die uns drei Dinge lehrt: kaufen, kaufen, kaufen! Oder, wie wir schon aus dem Kinderwagen heraus gerufen haben: haben wollen! Dass wir in einem Land leben, in dem so viele so vieles haben, macht uns aber nicht glücklich. Es zeigt uns nur, dass wir noch MEHR haben könnten. Und es aus irgendeinem Grund nicht haben. Und das macht uns wütend. Ist das schon mal jemandem aufgefallen? Alle sind immer so wütend in letzter Zeit! Auf dem Fahrrad. Im Auto. In der Freizeit. In der Wahlkabine. Wütend, wütend, wütend. Und wenn man wütend genug ist, drückt man eben als Finanzbeamter auf die ENTER-Taste, wenn man die eigene Kontonummer vor sich und sechshunderttausend Euro in Reichweite hat. Zugegeben, das Leben ist nicht leicht. Aber Glück (und jetzt noch einmal tiiiief durchatmen), Glück ist manchmal einfach nur die Abwesenheit von falschen Entscheidungen.

Cristóbal Schmal, www.artnomono.com

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