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Utopay vs. Dystopay – Mandantenzeitschrift tatort:steuern

Glosse

 

 

 

 

 

 

Jeder, der in die Zukunft schaut, muss sich entscheiden – für den utopischen Blick, der ihm das Paradies auf Erden verheißt – die ideale, perfekte Gesellschaft, in der alles, was ihm in der Gegenwart den Schlaf raubt, gut und gerecht funktioniert; oder den dystopischen, der ihm den nahenden Albtraum einer Katastrophe zeigt – eine Gesellschaft, in der er sich konstanter Unterdrückung, Kontrolle und Überwachung ausgesetzt sieht. Jeder, der neugierig genug ist, um 30 Jahre in die Zukunft zu schauen, weil er herausfinden möchte, wie es dort so laufen wird mit seinen Finanzen, sieht sich diesem Dilemma gegenüber – und wie immer gibt es zwei mögliche Szenarien:

Optimistisch gesehen, könnten wir nach unserem Ritt in der Zeitmaschine im Jahr 2055 aussteigen und eine Welt vorfinden, die Isaac Asimov, dem Schöpfer der stabilen, friedlichen galaktischen Vision, gut gefallen hätte – die Welt der nahtlosen Zahlungen:

Bargeld ist im Jahr 2055 nur noch eine ferne Erinnerung, über die BWL-Studenten der Zukunft im ersten Semester immer wieder herzlich lachen können: Papierläppchen, auf die man Zahlen gedruckt hat? Hö, hö, hö. In 30 Jahren werden wir durch unsere Welt gehen, und alles, was wir kaufen oder nutzen, wird automatisch über biometrische Signaturen bezahlt. Wir gehen einkaufen mit unserem Gesicht, unserem DNA-Pattern oder mit einem Chip im Handgelenk. „Bezahlen“ ist etwas, das fern von uns geschieht, geräuschlos, irgendwo im Hintergrund. Ein universelles Grundeinkommen garantiert uns Schutz vor Hunger oder Armut. In unserer Multi-Valuta-Welt zahlen wir neben digitalen Euros längst in CO2-Zertifikaten und in Energie- und Community-Token. Wer mit seinem Fortbewegungsmittel oder den Solarpanels auf seinem Haus Strom erzeugt, kann auch damit zahlen; wer Gutes für die Gemeinschaft tut, sammelt „Ehrenamt-Credits“ und tauscht sie ein gegen Paartherapie, eine Kreuzfahrt auf die Lofoten oder Fußpflege. Kryptografische Technologien sorgen dafür, dass Korruption ein längst vergangenes Phänomen ist. Jedwede Zahlung ist jederzeit überprüfbar, aber – sie bleibt privat: Dein Arzt kann sehen, dass du deine Leber-Medikamente bezahlt, aber nicht, wie viel du in diesem Monat schon in deiner Lieblingsweinhandlung gelassen hast. Generell hat Bargeld nach dem Aufstieg der künstlichen Intelligenz nahezu vollkommen an Bedeutung verloren. Der Beruf der Taschendiebe ist ausgestorben. Die gerechtere Verteilung von Reichtum, befristete Windfall-Steuern bei außergewöhnlichen Übergewinnen, KI, Automatisierung und Sharing-Systeme, die unseren Alltag bestimmen, haben Transport, Energie und Bildung kostenlos gemacht. Pflege im Alter wird seit Langem durch Steuern finanziert, nicht mehr durch das längst gescheiterte Sozialversicherungssystem. Altersarmut ist nur noch eine ferne Erinnerung. Das Unsichtbarwerden des Geldes hat allen Menschen ein Gefühl der Freiheit, Sicherheit und Kreativität gebracht.

Und wenn es nicht so doll gelaufen ist? Sollte sich unsere dunkle Seite durchgesetzt haben, hat digitales Zentralbankgeld unser Bargeld ersetzt. Jeder digitale Cent, den wir besitzen, ist programmierbar – wir können ihn nur noch für exakt zugewiesene Dinge ausgeben. Unser Lebensmittelbonus erlaubt uns, von monatlicher Zuweisung zu monatlicher Zuweisung zu überleben – aber nicht, uns Vorräte anzulegen, die uns vor staatlicher Willkür schützen könnten. Unser Kulturbonus erlaubt uns den Kauf eines (genehmigungspflichtigen) Buches – pro Jahr. Jede unserer Transaktionen hinterlässt eine digitale Spur. Nicht nur unsere Zahlungen – auch wir selbst sind vollständig überwachbar. Seitdem es keine Nationalstaaten mehr gibt, entscheiden ein paar wenige Konzerne, was wir kaufen können – und was nicht. Ein falsches Wort auf den sozialen Netzwerken, und unsere Guthaben werden eingefroren, im schlimm­s­ten Fall aufgelöst. Wer „gutes“ Verhalten zeigt, Energie spart, bereit ist, bis zur Selbstausbeutung zu arbeiten, und niemals Kritik am Mutterkonzern äußert, erhält Vorteile: günstigere Kredite, größere Lebensmittel-boni, die Erlaubnis, eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, schnellere Zugverbindungen zu nutzen. Wer sich aufsässig zeigt oder Kritik übt, verliert allen Zugang zu Nahrung und Dienstleistungen, kann keine medizinische Behandlung mehr bezahlen oder muss die Bildung seiner Kinder abbrechen. Geld, seit Jahrhunderten als Tauschmittel eingesetzt, ist nur mehr ein Werkzeug der absoluten Kontrolle.

Und wer wird gewinnen? George Orwells „1984“ oder Gene Roddenberrys „Star Trek“? Es hängt – so viel verrät uns die Kristallkugel – nicht von der Weiterentwicklung der Technologien ab. Die ist unaufhaltsam. Sie wird kommen – mit unserer Zustimmung oder ohne. Es hängt wohl eher davon ab, ob es uns gelingt, politische Entscheidungen, Machtverteilung und gesellschaftliches Bewusstsein für die Gefahren des digitalen Währungsmodells so zu organisieren, dass immer noch wir es sind, die die Regeln aufstellen. Trotzdem wäre es nicht verkehrt, für alle Fälle ein paar Goldmünzen im Kompost zu verstecken. Nur für den Fall, dass es nicht so rundläuft mit der Zukunft.

 

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