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Ein Defizit an Perfektion – Mandantenzeitschrift tatort:steuern

Brennpunkt

Ein Defizit an Perfektion

Den Verlauf ihrer vierten Amtszeit als Bundeskanzlerin hatte sich Angela Merkel nach der Bundestagswahl im Oktober 2017 sicherlich etwas anders vorgestellt. Die Regierungsbildung erwies sich als langwieriger und komplizierter als gewünscht, und die Arbeit der großen Koalition mutete zum Teil wie das sprichwörtliche „Fahren mit angezogener Handbremse“ an. Lange Zeit wurde auch von tatort:steuern ein gewisser Reformstau bei wichtigen und als notwendig erachteten steuerlich relevanten Gesetzen bemängelt.

Sowohl der Druck einer neuen Opposition von rechts als auch einer selbstbewussten politischen Jugend mit ihrer Bewegung „Fridays for Future“ schienen die Arbeit unserer Bundesregierung eher zu lähmen, denn zu beflügeln. Während die Parteien sich bereits in Position zum Bundestagswahlkampf für das nächste Jahr brachten, kam plötzlich „das Virus“. Und alles wurde anders als gedacht.

Die Einschleppung von SARS-CoV-2 konnte nicht verhindert werden, erste Befürchtungen, eine Reaktion auf die Corona-Entwicklung werde verschlafen, wurden laut. Sicherlich hätten schnellere Maßnahmen eine Verbreitung eingedämmt, fraglich bleibt, ob sie komplett zu verhindern gewesen wäre. Gemessen im internationalen Vergleich, hat sich die Bundesregierung gute Noten verdient. Der Lockdown nach Ausbruch der Pandemie war wichtig und nötig, um noch größeren gesundheitlichen Schaden in unserer Gesellschaft abzuwenden. In der Konsequenz bedeutete das sowohl für den Einzelnen als auch für zahlreiche Wirtschaftszweige extreme Einschnitte bis hin zur Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz. Dem Konflikt zwischen Gesunderhaltung der Gesellschaft und drohendem Wirtschaftseinbruch wurde von Beginn der Krise an mit Regelungen ohne hohe bürokratische Hürden entgegengewirkt.

Mit dem Konjunkturpaket, das im Juni im Höchsttempo von der Bundesregierung beschlossen, vom Bundestag verabschiedet und im Bundesrat bestätigt wurde, werden Konjunktureinbrüche wahrscheinlich nur abzuschwächen sein, manche Maßnahmen darin mögen ihre Kritiker haben. Aber dennoch: Im Bewusstsein der Alternativlosigkeit einer Reaktion auf die außerordentliche Herausforderung, das Gleichgewicht zwischen Gesundheit, Wirtschaft und Freiheit in unserer Gesellschaft aufrechtzuerhalten, müssen wir der Bundesregierung ein gewisses Defizit an Perfektion zugunsten von schnellen Regelungen zugestehen.

Mit ihrer Reaktion auf die Corona-Krise hat die Bundesregierung gezeigt, dass sie handeln kann, wenn die gesellschaftliche Notwendigkeit dies erfordert. Nicht nur das: Fast unbemerkt wurden Gesetze, über die vor Corona lange und kontrovers gestritten wurde, auf den Weg gebracht. Ab 2021 kommt die Grundrente, der Mindestlohn wird heraufgesetzt, der Kohleausstieg ist beschlossen. Die Liste ließe sich um einiges erweitern.

Angesichts dieser Entwicklung erscheint es unverständlich, dass sich partei- und landespolitische Egoismen allmählich wieder den Weg bahnen. Die Bundesländer sind sich schon seit Wochen nicht mehr einig über die pandemiebedingten Einschränkungen. Lockerungen, die unsere Gesellschaft schrittweise in eine gewisse Normalität zurückführen sollen, kommen uneinheitlich und verwirren mehr, als dass sie ein Sicherheitsgefühl vermitteln. Auch wenn hier wesentlich mehr Klarheit und Einigkeit wünschenswert wären und auch wenn mit allen Verhaltensregeln kein hundertprozentiger Schutz gegeben sein kann: Sowohl Protestdemos – wie Anfang August in Berlin – als auch die Verweigerung des Tragens von Schutzmasken und die Missachtung von Abstandsregeln schützen uns noch weniger vor der Gefahr einer Pandemieverbreitung. Die nachlassende Aufmerksamkeit im Alltag und der Verweis auf die alternativen Medien verhindern den neuerlichen Anstieg der Infektionszahlen nicht. Bisher gibt es noch keinen zweiten Lockdown, der unsere Gesellschaft wahrscheinlich wirtschaftlich und sozial vor eine unvergleichliche Zerreißprobe stellen wird. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.

 

© Tran-Photography - stock.adobe.com; Quelle: Kreis- und Landesbehörden, RKI, ECDC, ifo Institut

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