Glosse
In jedem noch so kleinen Betrüger glimmt ein Fünkchen Kreativität. Die braucht er, um sich auszumalen, wie er das System hintergehen kann, ohne dass er auffliegt. Seltsam nur, dass so vielen dieser kreativen Köpfe anschließend die notwendige Fantasie fehlt, für den Fall zu planen, dass man ihnen auf die Schliche kommen könnte. Jeder risikofreudige Mensch braucht einen Plan B, der ihm im Fall des Falles erlaubt, in die Ecken dieser Welt zu flüchten, die kein Auslieferungsabkommen mit seinem Heimatland geschlossen haben. Ein Mindestmaß an Weitsicht – das ist nicht zu viel verlangt.
Gezwungen, die Flucht anzutreten, können jedoch überraschend viele Kriminelle nicht weiter denken als bis nach Mallorca – ausgerechnet Mallorca. Da waren sie mal, da waren wir alle mal, da ist es schön warm, alle sprechen Deutsch, jeder mag Paella, und von Hamburg, Berlin und München fliegt man nur zweieinhalb Stunden. Schön wäre es für sie derzeit in Bangladesch, Guatemala, Iran, Kasachstan, Kuba und auf den Philippinen, aber sie glauben sich auf Mallorca in Sicherheit. Dabei kann man „kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland“ googeln!
Das bringt uns zu Herrn G., „G“ wie „gewissenlos“. Dass es in Krisenzeiten für Menschen, die ohne funktionierendes Gewissen auskommen, viel zu holen gibt, dämmerte zu Coronazeiten auch dem deutschen Unternehmer Herrn G. Er reagierte auf die verzweifelte Nachfrage von Privatpersonen und Kliniken nach Sanitätsmaterial, indem er es billig ankaufte und zu Wucherpreisen wieder verkaufte. Während Ärzte in hoffnungslos überfüllten Kliniken (in Garagen, auf Parkplätzen, in Altersheimen, auf Bürgersteigen) um das Leben ihrer Patienten kämpften und das eigene aufs Spiel setzten, überlegte G., wie er noch mehr Gewinn aus der Not anderer Menschen schlagen könnte: Er führte ganz einfach keine Umsatzsteuer ab!
Doch Gier ist nicht nur eine der sieben Todsünden, sondern auch ein mieser Verräter, und die deutsche Steuerfahndung ist auf Zack. Auf Zackerer jedenfalls, als es G. lieb ist. Als er die erste Anfrage des Finanzamtes erhält, hat er bereits 21 Millionen Euro Steuern hinterzogen und kann und will sich von diesem Geld nicht trennen. Es ist seins, es gehört ihm, und niemand sonst soll es haben dürfen. Was folgt, zeigt, dass nicht jeder Steuerhinterzieher das Talent zum ausgebufften Hochstapler hat.
G. flüchtet, wenig einfallsreich, nach Mallorca. Auf einer Finca im Hinterland von Cala Millor, dem Touristen-Moloch, in dem jedes Jahr Millionen Deutsche ihre Koffer abstellen, um vom Balkon ihres Zwölf-Geschossers aufs Mittelmeer (und Millionen andere Deutsche) zu schauen, glaubt G., als einer unter vielen nicht aufzufallen. Nur klebt ein europäischer Haftbefehl an seinem Namen. Die deutschen Zielfahnder haben die Spur des Justizflüchtlings aufgenommen und bitten ihre spanischen Kollegen um Amtshilfe. War die spanische Steuerfahndung in früheren Zeiten ein ziemlich phlegmatischer Haufen, sieht das, zum zukünftigen Leidwesen des Herrn G., mittlerweile ganz anders aus. Sogar Popsängerin Shakira, deren Hüften bekanntlich nicht lügen (deren Steuererklärungen aber nicht ganz so aufrichtig sind), sah sich unlängst gezwungen, 24,5 Millionen Euro nachzuzahlen.
Doch wo genau hält sich G. versteckt? Ordentlich angemeldet auf der Insel hat er sich nicht. Zum Glück für die Fahnder jedoch ist eines der Hobbys der ansässigen Bevölkerung (böse Zungen sagen, „das einzige Hobby“) der Tratsch. Mallorquiner bewohnen eine kleine Insel, von der sie oft nur das nächste Dorf kennen oder das übernächste. Das schränkt den Informationsfluss beträchtlich ein und intensiviert ihn gleichzeitig. Wie überall auf dem flachen Land weiß man wenig von der Welt und alles über den Nachbarn. Auch über den Deutschen, der erst seit einigen wenigen Wochen da ist und der versucht, möglichst unauffällig zu leben. Nach einem kurzen Zwischenstopp der spanischen Steuerfahnder in der Klatschzentrale von Sant Llorenç, der Bar an der Plaza Nova, ist der auffällig unauffällige Deutsche schnell gefunden.
G., mit seinen 60 Jahren auch nicht mehr der Rambo, der er wahrscheinlich nie war, leistet keinen Widerstand, klagt aber über gesundheitliche Probleme, wie viele Steuerbetrüger, die plötzlich unmittelbaren Kontakt mit Vollstreckungsbeamten haben. Nachdem er sich in einem Hospital in Palma erholt hat, wird G. nach Deutschland ausgeliefert. Hier endet seine Geschichte, vorerst. Und lässt Raum für eine grundsätzliche Betrachtung. Warum stiehlt man 21 Millionen Euro, wenn man sich danach gezwungen sieht, sich für den Rest seines Lebens auf einem Bauernhof im Nirgendwo zu verstecken? „Bueno, porque es estúpido“, sagen die Leute in der Bar an der Plaza Nova im Zentrum von Sant Llorenç de Cardassar im staubigen Hinterland von Cala Millor. Auf Deutsch: „Na, weil er blöd ist.“ Weil es trotz allem einen Riesenspaß gemacht hat, sagt Herr G.